Deutschland unter Druck – Die überforderten Kinder

Geld, Macht, Bildung

Die zurückliegenden Medienwoche bot viel Interessantes zum Thema Schule, Leistungsdruck, Pisa-Schule und Erziehung. Hauptsächlich im Fernsehen, sahen wir Reportagen, Diskussionen und Gespräche zu diesen Themen, mit denen sich mehr oder weniger alle Eltern beschäftigen. Bildung ist für sie ein Hort ständiger Sorgen. Der Druck auf den Nachwuchs scheint hier ständig zuzunehmen. Und so hieß denn auch eine Reportage im Ersten (vom NDR): Deutschland unter Druck – Die überforderten Kinder. Was es sonst noch zu erfahren gab, hier im Überblick.

Die genante Reportage Deutschland unter Druck ist der erste Teil einer Reihe zum Thema. Erschütternd fand ich die junge Mutter, die ihrem 5-jährigen Sohn English-Unterricht erteilt. Auf den Tagesablauf ihres Knirps angesprochen, sprach sie von einer Zeit für „freies Spiel“, die am Nachmittag zur Verfügung stand. Wie fruchtbar – die Mutter hat den Pädagogen-Jargon übernommen und dreht den Spieß um. Anstatt dass Lernen eine Ausnahme im Tagesablauf für ein Vorschulkind darstellt, ist es das „freie Spiel“.

Argumentiert wird immer mit den Karrierechancen, mit der Berufswahl, dem knallharten Wettbewerb – und am Ende mit dem Todschlag-Argument des gnadenlosen Konkurrenzkampfes mit China. Wenn wir unsere Kinder nicht genügend mit Drill und Disziplin malträtieren, verlieren wir im internationalen Verdrängungswettbewerb unsere Wirtschaftsmacht und damit unseren Wohlstand. Wir fressen das. Dieses Argument wird uns von bestimmten Kräften in den Käfig geworfen und wir schlucken den Brocken und halten die Schnauze. Aber wer sagt denn, dass es tatsächlich so ist? Und gibt es nicht viele andere Lebensbezüge und Lebensentwürfe, die „Leistung“ ganz anders definieren und die sehr wichtig für Mensch und Gesellschaft ist: Kunst und Kreativität.

Dazu gab es bei „hartaberfair“ eine sehr interessante Diskussionsrunde unter dem Titel: Übe Mozart oder Dein Kuscheltier brennt! Wie viel Härte braucht Erziehung?

Grundlage dieser Diskussion war das skandalumwitterte Buch von Amy Chua Die Mutter des Erfolgs: Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte (Original: „Battle Hymn of the Tiger Mother“). Wir wollen dieses Buch hier nicht besprechen, außerdem kursieren viele Vorurteile darüber. Interessierten empfehle ich den Audio-Beitrag Aufregung um die Tigermutter auf Deutschlandradio Wissen.

Auch in der „hartaberfair„-Diskussion wurde auf das Buch konkret eingegangen. Die Sendung ist übrigens als Podcast/MP3 hier nachzuhören (75 Min.):
Hart aber Fair Sendung: Wie viel Härte braucht Erziehung?

Der einzige der in dieser Runde eindeutig für Leistung, Disziplin und Drill sprach, war der Journalist und Ausbilder an der Henry-Nannen-Schule Wolf Schneider. Er ist aber ein Herr der alten Schule, eine andere Generation und hat sicher auch eine ganz andere Erziehung genossen. Vermutlich eine, die näher an der Schwarzen Pädagogik dran war, was die jünger Erzogenen. Um es klar zu sagen: Drill gehört in die Kaserne, Druck in einen Dampfkessel und Härte gegen sich selbst und die Kinder in ein anderes Jahrhundert.

Es wurde eine deutsche Austauschschülerin gezeigt, die in einer chinesischen Schule in Shanghai ein Jahr verbringt. Die Schüler dieser extremen Metropole hatten bei der PISA-Studie am Besten abgeschnitten. Doch was hier sahen, war der nackte Horror. Man sprach von einer anderen Kultur. Wir sahen militärischen Drill, Gehorsam, extreme Disziplin und die Mentalität unbedingt gewinnen zu … müssen. Ganz schlimm. Mit Freiheit, Aufklärung, Kreativität und Freude hatte das so richtig gar nichts mehr zu tun. Das beste Argument lieferte Tagesschau-Moderator Claus-Erich Boetzkes, der zurecht darauf hinwies, dass die letzte Erfindung, die aus China kam, die Kanone, aus dem Mittelalter stammt. In den letzten Jahrhunderten kamen die wesentlichen Erfindungen aus Europa oder Nord-Amerika. Das deutet darauf hin, dass Drill und eine Überbetonung von Disziplin nicht gerade zur Entfaltung von Kreativität beiträgt. Wobei wir betonen sollten, dass niemand etwas gegen Leistung und Herausforderungen hat. Nur sollte das nicht von Außen erzwungen werden. Und schon gar nicht bei Kindern!

Mehr zu diesem Interview in der ZDF-Mediathek: Video „Pelzig hält sich“ vom 15. Februar 2011.

Kinder im Wettbewerb - Bild: Schockwellenreiter
Foto: Schockwellenreiter

Das führt uns weiter zur nächsten Fernsehsendung, diesmal im ZDF. Pelzig hält sich heißt die Sendung des Kabarettisten Erwin Pelzig mit demselben Konzept wie seine BR3-Show „Pelzig unterhält sich“. Hier trafen wir Christiane Stenger, 24-jährige Gedächtnissportlerin (Das Gummibärchen im Spinat: Gedächtnistraining für Kinder) mit einem IQ von 145, also mit Sonderbegabung. Sie gab freimütig zu, faul zu sein. Darauf stieß Pelzig mit ihr an. Mit einer Mutter als Architektin und einem Vater als Lehrer, wurde sie gefragt, ob sie als Kind einem besonderem Drill und einer Förderung ausgesetzt gewesen ist. Nein, das sei sie nicht gewesen. Im Gegenteil. Sie und ihr noch klügerer Bruder durften sich viel ausprobieren, die Eltern versuchten, ihnen Vorhaben, die ihnen am Herzen lagen, zu ermöglichen. Also machten die Kinder die Erfahrung von Unterstützung, die Förderung von Neugier und das sammeln von eigenen Erfahrungen. Das klingt schon viel besser, als der mörderische Leistungsdruck, den man uns am Beispiel der Chinesischen eintrichtern möchte.

Der Höhepunkt der Pelzig-Sendung war aber der Auftritt des Wissenschaftsduos Prof. Dr. Moll und Prof. Dr. Dawirs. Hirnforscher im Einsatz für Kinder und Familien hieß es da, denn sie warten mit zwei neuen Büchern aus der Praxis auf:

erziehungsirrtum
pubertaetgehirn

Ihr Fazit ist, wenn ich es einfach zusammenfassen soll: Alles ist gut. Lasst die Kinder, Kinder sein. Mit gesunden Menschenverstand und Intuition ist man als Eltern auf einem guten, dem richtigen Weg. In Zeiten, in denen man ohne Baby- und Erziehungsbuch nicht mehr auskommt, in der man meint, nur mit einer psychologischen Fachausbildung einem Kind beizukommen, eine erleichternde Aussage. Überhaupt nehmen diese beiden viel Druck von Rat suchenden Eltern.

Drill wäre leider populär geworden in der Öffentlichkeit, sagte Prof. Dr. Moll, sei aber grundsätzlich falsch, weil es nichts mit dem Leben zu tun hätte, nichts mit Kindern und nichts mit Biologie. Und hier drückt er meine tiefste, intuitiv gewonnene Überzeugung aus. Eine Überzeugung, die, so meine ich, angeboren ist oder die man sich erwirbt, wenn man versucht mit sich selbst in Kontakt zu bleiben oder zu kommen.

Prof. Dr. Moll spricht in den genannten Büchern davon, dass Kinder Zeit zum Spielen bräuchten und eben keinen Leistungsdruck. Ob Frühförderung für Dreijährige und Beschallung für Schwangere denn Unsinn wäre, fragte Pelzig. Förderung sei etwa für behinderte Kinder notwendig, antwortete Prof. Dr. Dawirs darauf. Kind zu sein an sich sei ja keine Behinderung. Kinder hätten gewisse Recht und Ansprüche an ihren Lebensraum, den wir (Erwachsenen) eben gestalten müssten. Sie brauchen eine Umgebung, in der sie groß und stark werden dürfen.

Abschließen möchte ich die aktuelle ZEIT empfehlen. Ich muss den Artikel auch erst noch lesen, aber da heißt es: WALDORFSCHULE – Eine Schmiede guter Menschen. Als Alternative zu Leistungsdruck und Pisa-Stress an staatlichen Schulen ist die Waldorfpädagogik heute gefragt wie nie.

Mich macht es skeptisch, wenn Kinder beste Noten nach Hause bringen, Klassensprecher werden und ständig für ihre „Leistungen“ gelobt und bewundert werden. Die Kindheit ist eine relative kurz und einzigartige Zeit. Man hat nur eine Kindheit. Erwachsen ist man ein Leben lang. Nicht nur aus diesem Grund, ist die Kindheit sehr, sehr wichtig. Wir sollten unseren Nachwuchs das Kindsein zu gestehen. Sie brauchen Fürsorge und Wärme, Spiel und Herausforderung, Aufgaben und Abendteuer, bei denen sie auch scheitern dürfen. Weder das Leben ist perfekt, noch ist es ein Mensch. Das Leben ist kostbar, jedes Menschenleben unendlich wertvoll. Es geht ums Leben, um das Lebendigkeit, ums Da-Sein, sich entfalten und nicht nur um Ökonomie, China, Pisa und Karriere. Es gibt so viele Möglichkeiten und Lebensentwürfe. Jedes Individuum ist aufgefordert, seinen eigenen Weg nach seinen Möglichkeit zu entdecken. Die Menschheit, die Gesellschaft lebt unmittelbar von der Vielfalt und nicht von der Gleichschaltung oder der Spitzenleistung weniger. Und am Ende hat alles seinen Preis.

Wer Kindheit und Jungend im steten Wettbewerb verbringt, wer in dieser wichtigen Zeit anhaltendem und einseitigen Drill und Disziplin ausgesetzt ist und stets nach seinen Leistungen beurteilt wird, zahlt einen hohen Preis. In unserer Leistungsgesellschaft fällt die emotionale Verkrüppelung vieler Menschen nicht so auf. Aber am Umsatz, der mit Psychopharmaka erzielt wird, der in mit Coachingangeboten und Psychotherapie gemacht wird, an den Verkaufszahlen von Lebenshilfe- und Ratgeber-Literatur bekommt man vielleicht eine dunkle Ahnung, wie beschädigt viele Menschen sein müssen. Im Übrigen sollte man sich die Mühe machen und sich korrekt informieren. Die moderene Neuro-Biologie liefert viele erstaunliche Antworten, ebenso wie die wenigen charakterstarken Pädagogen, die mit Vernunft und Herz an die Sache herangehen. Sich ein nachhaltiges Wertesystem zuzulegen und das Leben als ein Ganzes sehen ist von den Eltern ebenfalls gefordert.

Ich werde meine Tochter diesem Druck nicht aussetzen. Wir Eltern sind uns da einig. Unser Kind darf Kind sein.

Mehr zu den Themen „Frühkindliche Bildung“ bei: Bertelsmannstiftung – Menschen bewegen. Zukunft gestalten.

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2 Kommentare

  1. Eine sehr gute Zusammenfassung der letzten Fernsehwoche zum Thema. Die Woche lag mir nämlich ziemlich im Magen, vor allem wegen des Subtextes von „was wollt ihr denn alle, wir wissen doch, dass Leistung wichtig ist“.

    Meine persönliche Haltung zu Kindern und Erziehung ist internetweit bekannt :)), ich möchte hier aber im Zusammenhang mit den Buchvorschlägen noch auf ein weiteres hinweisen, nämlich auf „Mutterschuldgefühl“ von Ulrike Hartmann. Es sind ja nicht nur die Kinder unter Druck – sondern auch die Eltern, die vielleicht nicht das Glück haben, von vornherein eine Haltung (nicht nur eine Meinung) zum Leben und zum Leben mit ihren Kindern zu haben und behalten zu dürfen. In der kommenden Fernsehwoche wird Ulrike Hartmann (die ich persönlich kenne und sehr schätze) bei Wieland Backes im SWR zu Gast sein, ich empfehle hier also sowohl das Buch als auch neuerliches Fernsehen :)). (ich glaube, Freitag 22.00 Uhr, Nachtcafe.)

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