Kinderverschickung nach Sylt: Auch ich bin eines der Verschickungskinder

Alter Bus auf Sylt. Wurden so Verschickungskinder gefahren?

Zufällig stieß ich die Tage auf das Thema Verschickungskinder. Ich wollte längst schon darüber schreiben, da ich selber vermutlich 1970 auf Sylt verschickt war. Doch das Thema ist nicht gerade aktuell, aber jetzt will ich doch davon erzählen.

Während es heute wie selbstverständlich Mutter-Kind-Kuren gibt, war das damals eher die Ausnahme. Wenn Mutter – nie der Vater! – auf Kur ging, verschickte man bis in die 80er Jahre die Kinder aufs Land in Kinderverschickungsheime. So konnte sich die Mama in Frieden erholen, während für die Kinder von Profis, Pädagoginnen und Erziehern anderswo gesorgt wurde. Dass die Kinder sich quälten und manchmal auch gequält, wenn nicht gar misshandelt wurden, und dort gar nicht sein wollten, interessiert niemanden. Damals war man noch stark geprägt von der „Schwarzen Pädagogik“ und fragte die Kinder nicht lange, sondern zog das durch.

Die Idee der Kinderverschickung stammte aus einer ganzen anderen Zeit. Wie auf Wikipedia zu erfahren ist, basierte die „Systematik und Infrastruktur großteils noch auf der Kinderlandverschickung (KLV), die schon während der Weimarer Republik und unter der Herrschaft der Nationalsozialisten bestanden hatte. Während des Zweiten Weltkriegs hatte sie dann der Evakuierung von Stadtkindern vor alliierten Luftangriffen gedient (sogenannte Erweiterte KLV) und bezweckte nicht mehr die Erholung der Kinder.“

Meine Erfahrungen in einem Verschickungsheim auf Sylt

Keine Ahnung, ob überhaupt jemand über diese Praxis damals nachdachte, aber es war absurd und … unmenschlich. Ich weiß, dass ich dort nicht hin wollte, aber man ließ mir keine Wahl. Irgendwann fand ich mich mit meinem 3,5 Jahre jüngeren Bruder in einem Verschickungsheim auf Sylt. Natürlich erinnere ich mich nicht mehr gut und habe sicher eine Menge verdrängte. Einige Erfahrungen aber werde ich nie vergessen.

Geschlagen wurden wir nicht, das vorweg. Unsere Familienverhältnisse begünstigten eine solche Verschickung. Meine Mutter war defacto Alleinerziehend. Ihr Mann, mein Stiefvater, war Alkoholkrank und kümmerte sich einen Scheiß. Nach dem meine Mutter eine erfolgreiche Operation an der Wirbelsäule hinter sich hatte, wollte sie eine „Müttergenesungskur“ machen. Ich glaube, so war das. Wohin aber mit den Kindern?

Meine Mutter ist ostpreußisches Flüchtlingskind und war ab 16 Vollwaise. Der Großteil ihrer Familie lebte in Baden-Württemberg und damals war das nicht üblich, die Kinder bei den Verwandten unterzubringen. Außerdem ging das a nur in den großen Ferien. Ich allerdings hätte zu meiner Großtante, meiner „Omi“, gehen können, aber was wäre mit meinem Halbbruder? Für ihn war kein Platz, also wurde entschieden, dass wir beide Kinder ins Schullandheim mussten.

Ich weiß gar nicht mehr, für wie lange, ob für 3 oder für 6 Wochen. Mir kam es sehr lang vor. Ich weiß noch, dass ich schon schreiben konnte, daher gehe ich davon aus, dass das zwischen der 1. und 2. Klasse stattfand, also im Sommer 1970. Und ich weiß, dass ich nicht schreiben durfte, was ich schreiben wollte. Nämlich das es mir nicht gut ging hier in der Verschickung. Offenbar wurde mir von der Kindergärtnerin diktiert, was ich auf die Postkarte schreiben sollte, damit die Mutter und die Oma sich keine Sorgen machen musste.

Dann mussten wir morgens – oder nachmittags – täglich „Froschaugensuppe“, wie wir es nannten, essen. Ekelhaft. Ich habe das Zeug gehasst. Eine Art Milchsuppe mit so schwimmendem Zeugs darin, das an Augen erinnerte. Keine Ahnung, es war scheußlich.

Abends heulte ich mich in die ersten Tage in den Schlaf. Gegen die Betreuerinnen konnte ich nicht sagen, aber die ganze Geschichte passte mir nicht.

Irgendwann kam ein Paket von meiner Omi an. Das war eine Überraschung. Aber ich durfte es nur unter kontrollierten Bedingungen öffnen, damit die andern Kinder, die kein Paket erhielten, nicht beschämt und eifersüchtig wurde. Mein Paket war voller Naschkram und ich freute mich riesig.

Ich will nicht sagen, dass ich durch die Erfahrungen in der Verschickung auf Sylt traumatisiert wurde. Ich denke, ich war es längst, aber das ist eine andere Geschichte. Ich weiß nur, dass ich dort gegen meinen Willen war, das man sich nicht um meine Zustimmung bemühte und ich nicht einsehen konnte, weshalb ich dann nicht bei meiner lieben Omi sein durfte. Ich konnte dich nichts dafür, dass meine Omi mir viel näher war und mein Bruder keinen rechten Platz dort hatte. Ach, das war alles nicht schön.

Dass man Kindern so etwas antun kann, ist ungeheuerlich. Damals wusste man es vielleicht nicht besser. Obwohl auch damals die Menschen zum Mitgefühl – Empathie sagt man heute – fähig war und ihre Kinder und Enkel liebten. Gut, dass das vorbei ist. Meiner Tochter würde ich so etwas, eine „Verschickung“ gegen ihren Willen sonst wo hin niemals antun. Ich sehe ihre erschrockenen Augen vor mir, wenn ich sie zu so etwas zwingen würde. So muss ich mich damals gefühlt haben. Das macht traurig.

sylt duenen
Die Dünen auf Sylt. Hier machten wir kleine Ausflüge mit der Gruppe aus dem Verschickungsheim

Links zum Thema Verschickungskinder der 1950er bis 1970er-Jahre

Beachtenswert, was die Initiative Verschickungskinder nach ihrem Kongress zum „Elend der Verschickungskinder“ im November 2019 auf ihrer Website erklärte: „Wir, die ehemaligen Verschickungskinder, sind überzeugt davon, dass die Aufarbeitung der Misshandlungen und des Elends der Verschickungskinder dazu beitragen kann, auch für die Zukunft die Wachsamkeit gegenüber institutioneller Gewalt zu erhöhen und den Schutz von Kindern zu fördern. Kontakt: info@verschickungsheime.de“

Auf Wikipedia heißt es im Beitrag „Verschickungskinder“, dass eine ernsthaft Auseinandersetzung mit dem schrecklichen Thema erst wenige Jahre alt ist. Was für ein Skandal! „Eine Auseinandersetzung mit traumatischen Erlebnissen in den Kurheimen fand lange Zeit nur in Einzelfallschilderungen statt, im Kinderbuch Schwarze Häuser von Sabine Ludwig oder in Internetforen von Betroffenen. 2017 legte eine Radioreportage die Zustände in vielen Kinderkurheimen der 1950er bis 1970er Jahre offen.“

Es ist ohne Zweifel eine furchtbare Sache gewesen, die sich in viele Kinderseelen tief eingebrannt hat. Teilweise wussten es die Erzieherinnen und Verantwortlichen, aber auch die Eltern und Großeltern nicht besser. Aber wenn sie Liebe gehabt haben, wirklich Liebe, dann hätten sie FÜHLEN können, dass es falsch ist, ihre Kinder in die Heime der schwarzen Pädagogik zu verschicken. Sicher haben viele MitarbeiterInnen in diesen Heimen nichts Böses gewollt und waren in ihren Institutionen selber hilflos und an Regeln gebunden. Und genau das nennt sich eben institutionelle Gewalt und darf nie mehr sein!

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