In der Serie Vikings, die man komplett auf Amazon Prime ansehen kann, gibt es eine Szene, in der der in Ungnade gefallene Bruder des Ragnar von dessen Feind gefragt wird, was er hier mache, während sein Bruder auf Raubzug in England sei. „Mich selbst finden“, antwortete Rollo, woraufhin der Jarl Borg, der mächtige Widersacher der Brüder, einen Lachanfall bekommt. Sich selbst finden – das gab es im Mittelalter bei den Heiden offenbar noch nicht. Aber heute, im Zeitalter der sozialen Medien, sieht es anderes aus. Hier kommt man sich selbst sehr schnell abhanden, auch wenn man 1000 Selfies schießt. Darüber geht das Buch von Georg Milzner Wir sind überall, nur nicht bei uns – Leben im Zeitalter des Selbstverlusts.
„Denn in einer Kultur, für die es normal ist, ständig etwas zu posten und sich immerfort zu zeigen, bleibt für die Wahrnehmung des eigenen Selbst, bleibt für das Selbstgefühl wenig Raum. Warum aber fällt das so wenigen auf?“
Es ist ein Buch für Menschen, die wissen, um was es geht. Leute, die weder ein Facebook, nich ein Twitter-Profil haben, können hier sicher nicht mitreden. Es ist eine ernste Sache, auch wenn ich glaube, dass dieser Selbstverlust etwas mit unserer Art zu leben zu tun hat, vielleicht eher mit dem „Kapitalismus“ als mit dem Missbrauch des Internets und der Computer-Technologie. Deshalb vielleicht auch der Untertitel des Buches „Leben im Zeitalter des Selbstverlusts“-
Ich wollte eigentlich mit Psychologen und Psychotherapeuten nichts mehr zu schaffen haben, seit mit einige dieser Figuren in meinem heftigen gerichtlichen Umgangsstreit mit der Mutter meiner Tochter ziemlich übel mitgespielt haben. Ich halte nämlich nichts für der ganzen Pathologisierung, die in den letzten Jahren umsich greift und die uns alle zu Patienten macht. Der gesunde Menschenverstand bleibt auf der Strecke.
Doch nun halte ich dieses Buch in der Hand und stelle fest, dass es Georg Milzner Ernst ist. Er baut die Sache sehr gewissenhaft auf und erklärt umfassend, was ihm aufgefallen ist, wie dieser Selbstverlust vonstatten geht und zu bewerten ist. „Narzissmus und Schwarmverhalten“ sind hier die Themen. Diese Dinge aber sind alles nur Symptome einer Fluchtbewegung aus einer teils vollkommen pervertierten Arbeitswelt. Es ist eine Abkehr vom Leistungsdenken, eine Verweigerung des Selbst, das eh nur von anderen ausgebeutet wird.
Pschotherapeut Milzner beschreibt die Symptome und die Zusammenhänge im Bezug auf die Nutzung sozialer Medien und dem Internet. Ein weites Feld. Das macht er sehr gut, weil er schlüssig argumentieren und sehr gut schreiben kann. Er bringt uns die Sache mit dem vernetzen Außen und der inneren Vereinsamung, mit dem permanenten Alarmzustand und der Errichtung eines künstlichen Selbst, die als Profile in den „Communitys“ erscheinen. Welche Konsquenzen dieses Verhalten hat, wird eindringlich beschrieben – Isolation, Burnout, Selbstverlust.
Aber der Autor zeigt auch Auswege auf: Im Kapitel „Zu uns selbst zurück – Irrwege und Wege“ bietet er Erkenntnisse und Lösungsmöglichkeiten an. Dabei scheinen sich die Kapital an Süchtige zu wenden. In der Tat erinnert viel an Spielsucht oder Sucht allgemein, die viele Parallelen zum Thema aufweist. Auch stoffliche Sucht bringt wie verhaltensgebundene Isolation, Burnout und Selbstverlust mit sich. Insofern hat dieses Buch eine viel größere Zielgruppe, als es scheint. Wir sind überall, nur nicht bei uns ist sicher dazu geeignet, mit Hilfe dieser Lektüre unser Leben zwischen den Jahren noch einmal zu überdenken.
- Siehe auch:
– Buch der Woche DER FREITAG - – Interview mit dem Autor auf Psychologie Heute
Leseprobe Wir sind überall, nur nicht bei uns
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Buch kaufen bei AMAZON: Wir sind überall, nur nicht bei uns – Leben im Zeitalter des Selbstverlusts
von Georg Milzner
265 Seiten, Beltz Verlag, September 2017
Gebundene Ausgabe
EUR 19,95