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Freude am Lernen? Fehlanzeige. Interessen entwickeln, Talente entdecken, Fähigkeiten entfalten, bei einer Sache Spaß und Bereicherung empfinden? Durch die Schule? Das sind extreme Ausnahmen. Oder?
Das deutsche Schulsystem steht seit Jahren in der Kritik. Warum? Weil es viele Kinder nicht fördert, sondern behindert. Die strikte Trennung nach Schulabschlüssen und die Fixierung auf kognitive Leistungen benachteiligen all jene, deren Stärken außerhalb des klassischen Lehrplans liegen. Dabei wissen wir längst, dass Intelligenz nicht eindimensional ist.
Schule ignoriert Vielfalt
Diese Probleme haben historische Wurzeln. Die Schule, wie wir sie kennen, entstand in einer Zeit, in der Disziplin und Gehorsam zentrale Werte waren. Im 18. und 19. Jahrhundert propagierte man die sogenannte „schwarze Pädagogik“ – ein Ansatz, der auf strikte Kontrolle, Unterdrückung und Anpassung setzte. Ziel war es, brave Untertanen heranzuziehen, Menschen, die nicht hinterfragten, sondern funktionierten. Obwohl sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geändert haben, sind viele dieser Strukturen geblieben.
Die Strukturen des Schulsystems sind nicht nur unzureichend, sie sind in vielerlei Hinsicht unmenschlich. Jenseits des individuellen Engagements von Lehrkräften und Politiker*innen bleibt das System teilmenschlich – es entspricht nicht dem, was Menschen wirklich brauchen. Schulen müssten eigentlich Orte sein, die Menschen hervorbringen, die langfristig Teil der Lösung sind: Menschen, die nichts zerstören, die Zusammenarbeit schätzen und ein Herz für andere haben. Doch stattdessen fördert das System häufig Anpassung, Angst und die Bereitschaft, sich in beliebige Rollen zu fügen. Das muss aufhören.
Der Grundgedanke des Systems mag auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen: Kinder sollen nach ihren Fähigkeiten gefördert werden, um die bestmöglichen Chancen für ihren Lebensweg zu erhalten. Doch was passiert, wenn das System diese Fähigkeiten nicht erkennt oder ignoriert? In der Schule wird meist nur eine Form von Intelligenz gewürdigt: die kognitive, rekapitulierende Intelligenz – die Fähigkeit, Wissen aufzunehmen und wiederzugeben. Andere Formen, wie emotionale, körperlich-kinästhetische oder musische Intelligenz, bleiben oft unbeachtet.
Fächer wie Kunst und Musik, die Raum für Kreativität bieten, werden häufig zugunsten von Mathematik und Deutsch in den Hintergrund gedrängt. Dabei könnten gerade diese Disziplinen denjenigen Kindern helfen, die mit klassischen Lernmethoden kämpfen. Stattdessen müssen sie sich in einem System behaupten, das ihre Stärken ignoriert oder sogar abwertet.
Warum frühe „Selektion“ im Schulsystem Kinder scheitern lässt
Ein zentraler Kritikpunkt ist die frühe Selektion. Bereits nach der vierten Klasse werden Kinder in verschiedene Schulformen eingeteilt – eine Entscheidung, die oft über ihre berufliche Zukunft entscheidet. Diese Trennung zerreißt Freundschaften und soziale Bindungen, die für die Entwicklung von Kindern essenziell sind. Sie lernen, miteinander zu konkurrieren, statt gemeinsam zu wachsen. Der Leistungsdruck nimmt zu, und für viele Kinder beginnt ein Teufelskreis aus Versagensängsten und Rückschlägen.
Das Problem liegt auch darin, dass die Schule nicht anerkennt, dass Kinder unterschiedlich reifen. Jedes Kind entwickelt sich zu seiner eigenen Zeit, entfaltet unterschiedliche Fähigkeiten zu unterschiedlichen Momenten. Doch die schulischen Strukturen bilden das nicht ab. Es beginnt schon bei der Einschulung: Eine präzisere Schulreifeprüfung könnte helfen, aber solche Tests gibt es kaum. Spätentwickler werden so benachteiligt. Ein Beispiel: Ein Kind, das im Mai geboren wurde und zu früh eingeschult wird, findet sich oft in einer Umgebung wieder, in der andere Kinder emotional und intellektuell viel weiter sind. Die Schule kann auf diese Unterschiede nicht eingehen.
Nehmen wir ein Beispiel: Ein zurückhaltendes Kind, das Ende Mai geboren wurde, wird zu früh eingeschult. Es ist sensibel, introvertiert und hat Schwierigkeiten, sich im Unterricht aktiv zu beteiligen. Die Eltern sind durch berufliche oder persönliche Probleme abgelenkt, die Pubertät und der Einfluss von Social Media verschärfen die Lage. Freund*innen fallen aus, weil sie selbst mit psychischen Problemen kämpfen. Unter solchen Bedingungen ist es nahezu unmöglich, in einem System zu bestehen, das Anpassung und Leistung über alles stellt.
Klassische Kernfächer wie Mathematik und Deutsch werden für solche Kinder zur Qual. Lehrerinnen haben oft weder die Zeit noch die Ressourcen, um individuell auf Schülerinnen einzugehen. Die Vielfalt von Talenten bleibt unentdeckt. Ein Schulabschluss wird so nicht zum Ausdruck von Intelligenz, sondern von Angepasstheit – wie es der Neurobiologe Gerald Hüther treffend formuliert hat.
Um-Bildung in Deutschland: Der dringende Ruf nach einer Schule der Zukunft
Doch warum bleibt das deutsche Schulsystem so starr? Die Antwort liegt auch in seinen historischen Strukturen. Ein Bildungssystem, das Vielfalt und Individualität würdigt, würde bestehende soziale Unterschiede infrage stellen. Stattdessen reproduziert es Ungleichheiten. Der Weg von der Schule in die Arbeitswelt wird so früh vorgezeichnet, dass vielen Kindern Chancen genommen werden, bevor sie überhaupt erkennen können, was in ihnen steckt.
Die Folgen sind weitreichend: Kinder, die im Schulsystem scheitern, erleben oft auch im Erwachsenenalter Schwierigkeiten. Die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Möglichkeiten und Einschränkungen, wird größer. Gleichzeitig lernen Kinder nicht, miteinander zu kooperieren, sondern in Konkurrenz zu treten. Das hinterlässt Spuren – nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Umgang mit globalen Herausforderungen wie Klimawandel oder sozialer Gerechtigkeit.
Ein Umdenken ist dringend notwendig. Bildung sollte nicht nur Wissen vermitteln, sondern Kinder auf das Leben vorbereiten – ein Leben, das Kreativität, Mitgefühl und soziale Verantwortung erfordert. Dazu gehört auch, dass wir uns von der Idee verabschieden, ein guter Schulabschluss sei alles. Stattdessen muss der Fokus darauf liegen, jedes Kind in seiner Einzigartigkeit zu fördern.
Die Schule der Zukunft muss Vielfalt als Chance begreifen. Sie sollte ein Ort sein, an dem Kinder nicht nur lernen, sondern wachsen. Bildung ist nicht nur ein Mittel zum Zweck – sie ist ein Fundament für ein gerechteres, menschlicheres Miteinander.
Links
- Schulen der Zukunft
- Bildungsreich
- Schule im Aufbruch
- Alphabet – Angst oder Liebe
- Bildungspolitik – Neue Zeiten, neue Schule
- Papalapapi.de Bildungsreform in Hamburg – Der Krampf um die weiterführende Schule
- Papalapapi.de: Wie das Leben nach dem Abi wirklich ist
- Papalapapi.de: Bundesjugendspiele abschaffen
- Papalapapi.de: Reformschule, Notabitur und das endlose Gegeneinander
- Papalapapi.de: Abgelehnt nach Elterngespräch: Die Waldorfschule will uns nicht
P.S.: Als Elternrat und einem Jahr Vorsitzender des Kreiselternrats in Hamburg-Altona habe ich mich für die Schulen engagiert und sogar an einer Sitzung mit unserem damaligen Schulsenator Raabe teilgenommen.