Wehe, Du bist alt und wirst krank! Wir werden immer älter, die Medizin immer teurer, gut Pflegekräfte immer weniger und eine gute, sichere und angemessene Versorgung im Alter kaum noch vorstellbar. Wie ist es wirklich, wie sieht es aus? Darüber klärt der Journalist Raimund Schmid in seinem kürzlich erschienen Buch Wehe, du bist alt und wirst krank über die Missstände in der Altersmedizin auf.
Aktuell ist mein Thema eher die Familienpolitik, von daher habe ich mich mit dem Buch nicht intensiv genug auseinander gesetzt. Doch da ich einmal als examinierter Krankenpfleger gearbeitet habe, bin ich mit der Materie sehr vertraut. Früher hieß es Pflegenotstand und es ist nicht besser geworden. Der demographische Wandel, die Kostenexplosion, die höhere Lebenserwartung trotz aller Unkenrufe, fordern uns, fordern unserer Gesellschaft – und unseren Kindern – einiges ab. „Die Politik hält zwar die Fahne der personalisierten Medizin sehr hoch, spart aber am Personal am meisten. Und darunter leiden gerade alte und kranke Menschen in ganz besonderer Weise!
Meine Meinung ist, dass die Menschen und die Gesellschaft die Medizin bekommen, die sie haben wollen. Offenbar will die Gesellschaft HighTech-Medizin, der Tod, der soll nicht vorkommen und so weit wie möglich nach hinten geschoben werden. Als der 80-Jährige Udo Jürgens zusammenbrach und starb, durfte er das nicht einfach, sondern sollte „gerettet“ werden. Ein schöner und schneller Tod – das scheint nicht vorgesehen in dieser Art Medizin. Und das mag der Grund sein, weshalb das Geld in Technik und Medikamente fließt und am Personal gespart wird. Folgerichtig wäre das, wenn man unsere Medizin genauer betrachtet.
Raimund Schmid fasst das in Wehe, Du bist alt und wirst krank so zusammen:
„Immer mehr Menschen werden immer älter und können immer länger zu Hause leben, bis eine umfassende Pflegebedürftigkeit oder gar Demenz auftritt, die andere
Versorgungsformen erfordert. Dieser demografische Tsunami, der auf uns zurollt, wird aber von den politischen Verantwortlichen wie auch von der Gesellschaft verdrängt. Zwei Belege dafür: Im Jahr 2000 waren 3,1 Millionen Menschen über 80 Jahre alt (4 Prozent der Gesamtbevölkerung). 2020 werden es rund doppelt so viele sein (6 Millionen) und 2050 bis 2060 9-11 Millionen (12 Prozent der Gesamtbevölkerung) 100-jährige.
Die Versorgungslandschaft in Deutschland ist auf diese Welle von immer mehr alten und kranken Menschen aber noch nicht vorbereitet. Angehörige sind extrem belastet und überfordert, weil sie 20 Jahre lang – und damit so lange wie niemals zuvor – für die Betreuung der eigenen Eltern oder nahen Angehörigen zuständig sind oder diese Betreuung zumindest koordinieren und organisieren müssen. Viele Jahre davon müssen diese bereits mit Krankheiten leben. Von den noch verbleibenden 20 Jahren nach dem 65. Lebensjahr sind in Deutschland 6,5 Jahre reine gesunde Jahre. Das sieht in anderen Ländern ganz anders aus. Schweden: 13,5 Jahre, Norwegen 15 Jahre.
Die ambulante Versorgung wird den Bedürfnissen alter Menschen nicht gerecht. Es wird zwar sehr viel verordnet, doch niemand kümmert sich so recht darum, was mit den Verschreibungen zu Hause konkret passiert.“
Lasses wir das mal so stehen. Das Gute an dem Buch Wehe, du bist alt und wirst krank ist, dass es auch positive Beispiel zeigt. Denn diese gibt es ebenfalls überall, wenn man nur danach sucht. In anderen Ländern, aber auch bei uns:
„Alternativen hin zu einer besseren und ganzheitlichen Betreuung und Behandlung alter und kranker Menschen sind bundesweit durchaus in beachtlicher Vielzahl vorhanden. Das habe ich auf meiner Reportagereise quer durch Deutschland hautnah erlebt. Zum Beispiel in ländlichen Gemeinden um die mittelstädtische Kleinstadt Lich bei Gießen oder im niedersächsischen Dötlingen bei Oldenburg, in denen die Kommunen selbst das Heft in die Hand nehmen und mit Gemeindeschwestern oder Seniorenhelfern alten Menschen zur Seite stehen. Oder in Krankenhäusern wie in Münster (Nordrhein-Westfalen) oder Berlin Tempelhof, wo
geriatrischen Patienten mit Hilfe von Altenpflegerinnen oder Ordensschwestern eine ganz besondere Fürsorge zuteil wird. Und im niederbayerischen Nittendorf bei Regensburg, in dem alte und kranke Menschen noch von ihrem Hausarzt auch zu Hause engagiert und engmaschig betreut werden bzw. in Pforzheim (Baden-Württemberg), wo diese Hausärzte von Versorgungsassistentinnen vorbildlich unterstützt und damit entlastet werden.
Doch diese und viele weitere im Buch geschilderten innovativen Versorgungsansätze sind punktuell, zu wenig vernetzt und werden nicht systematisch ausgewertet und ausgeweitet. Daher verpuffen die meisten Modelle, weil sie nicht in die Regelversorgung für alle alten und kranken Patienten überführt werden. Gerade beim alten und kranken Menschen zeigt sich: Nicht der geriatrische Patient steht im Fokus des Interesses, sondern die auf die industrialisierte Medizin ausgerichteten Player im Gesundheitssystem mit ihrer High-Tech statt High-Touch Medizin. Und natürlich die Leistungsträger mit ihren wirtschaftlichen Interessen, indem sie die Kosten wo immer möglich radikal herunterfahren (geriatrische Reha) oder erst gar nicht erst entstehen lassen (Pflege).“
Ein offenbar notwendiges Buch, dass nicht nur zeigt, wie es ist, sondern dass auch beschreibt, was möglich wäre und wie es sein könnte!
Wehe, du bist alt und wirst krank.
Missstände in der Altersmedizin und was wir dagegen tun können
Herausforderungen, Missstände und positive Ausblicke für die Altersmedizin in Deutschland,
zusammengetragen von Raimund Schmid.
264 Seiten, 978-3-407-86436-9
19,95 Euro
Erschienen im Februar 2017
Schon jetzt ist die Gesundheitsversorgung alter Menschen nicht befriedigend: nicht altersgemäße Behandlungsmethoden, eine Medizin, die zu wenig auf den Erhalt der eigenen Selbstständigkeit ausgerichtet ist, zu viele Medikamente und das Problem der Mehrfachverschreibungen. Und: Immer mehr alte Menschen in unserem Land bedeutet nach jetzigem Stand auch immer mehr schlecht versorgte alte Menschen. Was sich ändern kann und muss, hat der Journalist Raimund Schmid in seinem Buch »Wehe Du bist alt und wirst krank« festgehalten.
Raimund Schmid beschreibt die fatalen Mechanismen im deutschen Gesundheitssystem: schädliche Therapien, zu viele Medikamente, zu wenig Zeit und Beratung. Er beschreibt, warum das Hausarztmodell in Hinblick auf alte kranke Menschen an seine Grenzen stößt und warum Patienten im Krankenhaus so schlecht versorgt und nach dem Klinikaufenthalt vernachlässigt werden. Seine wichtigsten Fragen: Woran krankt die Versorgung geriatrischer Patienten und was muss an Versorgung und Betreuung bereitgestellt werden, damit alte Patienten möglichst lange in den eigenen vier Wänden wohnen bleiben können?
Bei seiner Recherche quer durch Deutschland ist Schmid auch auf Beispiele gestoßen, wie eine auf die spezifischen Bedürfnisse alter Menschen ausgerichtete Gesundheitsleistung aussehen kann. Auswege sieht er einerseits im Bereich der Digitalisierung und der Telemedizin sowie in kommunalen Konzepten der Gesundheitsförderung und Prävention. Der Autor benennt klar, was angesichts des demografischen Tsunamis nicht nur jeder Einzelne, sondern die Gesellschaft praktisch, politisch und präventiv tun muss.
45 Tipps für Senioren und ihre Angehörigen sowie 20 Rezepte für die Politik bis 2020 runden das Buch ab.