Die Familie meiner Mutter stammt aus dem nordöstlichen Ostpreußen. Es liegt jetzt in der Oblast Kaliningrad und russischer Verwaltung. Atomraketen sollen von dort auf Berlin zielen. Vor mir liegt das Buch „Wir Ostpreußen“, dass auch meine Familiengeschichte noch einmal beleuchten will.
Denn wir, die Enkel und Kinder der Kriegskinder – Kriegsenkel – tragen die Geschichte der Flucht, aber auch die Kultur und das Leben in Ostpreußen in unserer Seele, unseren Genen, sind, ob wir wollen oder nicht, wurzelt ein Teil von uns in dieser fernen Provinz, mit den weiten Landschaften und dem harten Leben im Nordosten Europas.
Ich habe meine Großmutter nicht kennengelernt, sie starb vor meine Geburt in der Nähe von Stuttgart. Sie bekam mit ihren drei kleinen Kinder – eins davon war meine Mutter – aus einem Flüchtlingslager in Dänemark und das Dorf Bürg zugewiesen, in dem meine Mutter ihre späte Kindheit verbrachte. Die Mauschernings konnten sich in einer dramatischen Flucht über die Ostsee vor der wütenden russischen Armee und einer weiteren Diktatur retten.
Mein Großvater indes galt seit Ende Januar 1945 als vermisst, als er im Volkssturm bei der Stadt Lötzen und der Feste Boyen die Rote Armee aufhalten und den Rückraum zur Ostsee decken sollte. Wie man die russische Armee kennt, haben die damals mit einer gigantischen Übermacht alles in Schutt und Asche artilleriet. Mein Opa hatte keine Chance. Niemand weiß, was mit ihm geschehen ist, wie er zu Tode kam. Dieses Schicksal teilt er mit 100.000en getöteten, misshandelten, missbrauchten, verheizten, ermordeten, verstümmelten Soldaten aller Kriegsparteien. Was das mit den Familien macht, bleibt allzu oft ungesehen
Seiner Frau brach es das Herz, der Tod meines Großvaters und die Flucht aus der Heimat. Seit ihrem 16. Lebensjahr ist meine Mutter Vollwaise. Unsere Familie ist zerstückelt und klein, wie es für durch den Krieg zerstörte Familien nicht nur in Deutschland nicht ungewöhnlich ist.
Aktuell haben wir wieder einen grausamen Krieg in Europa. Die Ukraine würde anlasslos von den Truppen des Tyrannen und Massenmörder Putins überfallen. Man konnte sehr schnell die Strategie der russischen Truppen sehen, die sich seit dem 2. Weltkrieg nicht geändert hat. Das Militärhandbuch der russischen Streitkräfte gibt Einblick in die grauenhafte Menschenverachtung und brutale Ideologie der durch Jahrhunderte der Diktatur verkorksten russischen Kultur.
Die strukturelle Gewalt in Armee, Staatsapparat, den Schulen und Gefängnissen soll hier nicht unser Thema sein. Sondern die Schicksale der Menschen, die durch Krieg und Gewaltherrschaft, ihr Hab und Gut, ihre Gesundheit oder ihr Leben, ihre Heimat und ihre Seele verloren haben. Denn selbstverständlich ist Adolf Hitler für das Schicksal der Ostpreußen verantwortlich. Auch wenn die Russen nicht so rücksichtslos und widerlich hätten sein müssen. Schuld ist nicht das Thema des Buchs Wir Ostpreußen von Jochen Buchsteiner, sondern seine Familiengeschichte.
Familiengeschichte zwischen Flucht aus Ostpreußen, Verlust und Erinnerung
Jochen Buchsteiner gelingt mit Wir Ostpreußen ein bemerkenswert vielschichtiges Werk, das historische Tiefenschärfe mit persönlicher Nähe verbindet – ohne in Sentimentalität abzugleiten. Der Ausgangspunkt des Buches ist der Fluchtbericht seiner Großmutter Else, die 1945 als Teil einer ostpreußischen Gutsbesitzerfamilie vor der heranrückenden Roten Armee flieht. Doch Buchsteiner erzählt nicht nur eine familiäre Fluchtgeschichte – er entfaltet daraus ein fein gezeichnetes Panorama einer untergegangenen Welt, das zugleich politische, kulturelle und moralische Fragen aufwirft.
Stilistisch beeindruckt das Buch durch seine klare, reflektierte Sprache. Der Autor, jahrzehntelang Auslandskorrespondent der FAZ, bleibt sachlich und doch spürbar bewegt. Indem er sich mit seinem Vater und seinem Sohn gemeinsam auf Spurensuche begibt, verknüpft er drei Generationen mit der Frage nach Herkunft, Identität und kollektiver Erinnerung. Der Begriff „Heimwehtourist“, den Buchsteiner ironisch für sich verwendet, beschreibt treffend die Ambivalenz dieser Rückschau: ein tastender, nie verklärender Blick auf eine Region, die einst deutsch war und heute in der deutschen Erinnerungskultur kaum noch vorkommt.
Wir Ostpreußen ist ein leises, klug komponiertes Buch, das nicht nur die Geschichte einer Familie, sondern die Geschichte eines verdrängten deutschen Traumas erzählt. Buchsteiner gelingt es, Ostpreußen nicht nur als geografischen Ort, sondern als kulturelles Gedächtnis sichtbar zu machen. Es ist ein historisches Sachbuch mit literarischer Qualität – und ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Debatte über Flucht, Vertreibung und nationale Identität.
Wir Ostpreußen. Eine ganz gewöhnliche deutsche Familiengeschichte
von Jochen Buchsteiner
288 Seiten, dtv Verlag (2025)
ISBN 3423284706
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Über den Autor
Jochen Buchsteiner, Jahrgang 1965, ist einer der profiliertesten politischen Journalisten Deutschlands. Er studierte Politikwissenschaft und Allgemeine Rhetorik, bevor er zunächst als Parlamentskorrespondent für Die Zeit tätig war. Anschließend berichtete er über zwei Jahrzehnte hinweg für die Frankfurter Allgemeine Zeitung aus einigen der dynamischsten und konfliktträchtigsten Regionen der Welt – darunter Südasien, der Indopazifik und Großbritannien. Heute arbeitet er als Politischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.
Buchsteiners Arbeiten zeichnen sich durch analytische Präzision, historisches Bewusstsein und eine klare, anschauliche Sprache aus. Seine Bücher – darunter Die Stunde der Asiaten (2005) und Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie (2018) – verbinden fundierte Recherche mit erzählerischem Gespür. In Wir Ostpreußen wendet er diesen Blick auf die eigene Familiengeschichte und liefert damit nicht nur ein Stück Erinnerungsliteratur, sondern auch einen Beitrag zur deutschen Zeitgeschichte.



