Ein Kinderheim mit Spielplatz und Reithalle, ein Glaubenssystem, das Liebe predigt – und gleichzeitig Kinder erniedrigt, schlägt und missbraucht. Die ZDF-Doku „Die Kinder aus Korntal“ öffnet die Tür zu einem Abgrund der Schwarzen Pädagogik, religiösem Wahn und patriarchaler Macht. Und sie zeigt, warum sich so viele Männer – noch heute – mit Scham, Sprachlosigkeit und gebrochenem Vertrauen herumschlagen.
ZDF-Doku Die Kinder aus Korntal
Es wirkt wie ein harmloser Ort: ein eierschalenfarbenes Haus, eine große Schaukel, ein Schwimmbad, eine Reithalle. Ein Idyll, das Kinder heilen sollte. Tatsächlich beherbergte das Heim der Evangelischen Brüdergemeinde in Korntal eines der grausamsten Systeme von Missbrauch, Gewalt und spiritueller Unterwerfung der Nachkriegszeit – ein ganz eigener Kosmos aus Angst, Schweigen und religiösem Größenwahn.
Die Doku zeigt eindrücklich, wie Schwarze Pädagogik und monotheistische Machtsysteme ineinander greifen: Kinder sollten gehorchen, nicht fragen. Beten, nicht fühlen. Schweigen, wenn sie litten. „Wir sind mit der Bibel großgeprügelt worden“, sagt Thomas Mockler, eines der ehemaligen Heimkinder. Dieser Satz trifft ins Mark. Er beschreibt nicht nur Schläge, sondern die totale Ideologie: die Idee, dass Gewalt göttlich legitimiert sei und Täter sich dabei noch moralisch überlegen fühlen dürfen.
Nicht nur die katholische Kirche hat Dreck am Stecken
Die Gewalt war systemisch. In einem evangelischen Kinderheim nicht zu vergessen. Sie war kein Ausrutscher, kein Fehltritt eines Einzelnen. Erzieherinnen, Lehrer, Patenfamilien – 81 Täterinnen und Täter, über 100 Betroffene. Männer, Frauen, Menschen im kirchlichen Auftrag. Der Hausmeister, der Kinder aus Klassenzimmern holte, um sie zu vergewaltigen. Ein Heimleiter, der „ganz gerne“ mit der Reitgerte zuschlug. Und darüber hinaus ein Klima, das Kinder – oft aus ärmeren Familien stammend – als Menschen zweiter Klasse behandelte.
Es ist diese Mischung aus sozialer Abwertung, religiösem Absolutismus und patriarchaler Herrschaft, die das System ermöglichte. Genau das, was ich in meinem Männer- und Vaterblog immer wieder anspreche: Wenn Männer Macht haben, aber keine Rechenschaft, keine Selbstreflexion und keine Gemeinschaft, die Grenzen setzt – dann entsteht ein Sog aus Unterwerfung, Angst und willkürlicher Gewalt.
Besonders bitter ist der Umgang mit den Betroffenen heute. Aussagen wie „Man müsse auch mal abschließen“ zeigen, warum Heilung so schwer bleibt. Wer als Kind geschlagen, gedemütigt oder missbraucht wurde, hat nicht nur ein Trauma – er hat ein zerbrochenes Weltbild. Die Scham frisst sich Jahrzehnte später durch Beziehungen, Vaterschaft, Sexualität, Nähe.
Der lange Schatten des Monotheismus
Für Eltern, gerade Männer, die heute Väter sind, kann dieser Blick schmerzhaft sein. Aber er ist auch ein Weckruf. Die Geschichte aus Korntal zwingt uns, unsere eigenen erlernten Muster zu prüfen: Strenge? Härte? Schweigen? Gottgewollte Autorität? Alles toxische Erbschaften.
Und sie zeigt, wie unglaublich mutig diejenigen sind, die heute sprechen. Einer von ihnen, Detlev Zander, brach als Erster das Schweigen. Er hat jahrelang missbraucht überlebt, vier seiner ehemaligen Heimkameraden nicht. Seine Sätze brennen sich ein: „Manchmal habe ich mich gefragt, wie ich das überlebt habe.“
Genau deshalb brauchen wir solche Filme. Damit nicht wieder darüber geschwiegen wird. Damit wir endlich verstehen: Stärke ist nicht Härte. Fürsorgliche Verantwortung ist Stärke. Und Fürsorge braucht Freiheit – nicht Gehorsam.
In der ZDF-Mediathek
- Quelle: F.A.Z: Doku „Die Kinder aus Korntal“: „Wir sind mit der Bibel großgeprügelt worden“ von Vanessa Fato
- ZDF-Mediathek: Die Kinder aus Korntal


