Stigma Hauptschulabschluss: Keinen Bock mehr auf Schule

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  • Beitrag zuletzt geändert am:9. Juli 2025
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Hauptschule 1919. Bild von DALL-E erzeugt

In Deutschland herrscht ein unsichtbares Kastensystem, das nicht auf Geburt oder Vermögen basiert, sondern auf einem Stück Papier: dem Schulabschluss. Wer „nur“ einen Hauptschulabschluss – oder wie er in Hamburg heißt: den ersten allgemeinbildenden Schulabschluss – vorweisen kann, wird oft behandelt, als sei er ein Mensch zweiter Klasse. Diese Stigmatisierung ist nicht nur ungerecht, sondern auch grundlegend falsch.

Historische Wurzeln: Die Entstehung der Volksschule im 19. Jahrhundert

Um die heutige Stigmatisierung zu verstehen, lohnt ein Blick in die Geschichte. Der preußische König Friedrich Wilhelm I. erließ bereits 1717 das Edikt zur allgemeinen Schulpflicht und bestimmte, dass Kinder von fünf bis zwölf Jahren in die Schule gehen sollten. Er etablierte zunächst ein zweigeteiltes Schulwesen mit einfachen Volksschulen für die Masse und Gymnasien für eine kleine Elite.

Im 19. Jahrhundert erlebte Deutschland einen bildungspolitischen Boom. War Bildung bisher vor allem Sache der Kirchen gewesen, trat jetzt der Staat auf den Plan und machte sich die Entwicklung des Bildungswesens zur Aufgabe. Die Volksschule vermittelte die grundlegenden Kenntnisse wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Naturkunde und christliche Wertvorstellungen und dauerte acht Jahre.

Dieses System war von Anfang an hierarchisch angelegt und spiegelte die gesellschaftlichen Strukturen wider: Die Volksschule (heute Hauptschule) war für die Arbeiterschaft bestimmt, die mittlere Reife für die Schicht der Verwaltungsangestellten und das Abitur für Offiziere und höhere Angestellte. Diese Dreiteilung war kein Zufall, sondern sollte die bestehende Gesellschaftsordnung stabilisieren und reproduzieren.

Die heutige Hauptschule ist in den 1960er Jahren aus der 8-jährigen Volksschule hervorgegangen, trägt aber noch immer die historische Last dieser Klassengesellschaft in sich. Was als praktische Bildung für die „einfachen Leute“ gedacht war, wurde über die Jahrhunderte zu einem Stigma umgedeutet. Das dreigliedrige Schulsystem funktionierte somit nicht als Aufstiegsleiter, sondern als Sortiermaschine, die gesellschaftliche Hierarchien festschrieb.

Das Problem der Bildungsarroganz

Unsere Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, Menschen anhand ihrer Schulabschlüsse zu bewerten. Manche verhalten sich, als wäre man ohne Abitur kein vollwertiger Mensch. Diese Bildungsarroganz übersieht eine fundamentale Wahrheit: Alle Schüler, unabhängig von ihrem Hintergrund, ihrer Entwicklung oder ihren genetischen Voraussetzungen, müssen durch das gleiche Nadelöhr des Schulsystems – ein System, das längst nicht alle Talente und Fähigkeiten erfasst oder fördert. Siehe das Buch Bildungspanik von Heinz Bude.

Wenn dein Kind mit einem Hauptschulabschluss von der Schule geht, ist das ein Erfolg. Der Jugendlich ist nicht alleine dafür verantwortlich. Seine Gene, die Umstände, die Eltern und vor allem die Schule haben es so gewollt.

Die Einheitsmessung eines vielfältigen Potenzials

Unser Schulsystem misst Erfolg hauptsächlich an den Leistungen in Deutsch, Mathematik und Englisch. Doch was ist mit handwerklichem Geschick, emotionaler Intelligenz, sozialer Kompetenz, Kreativität oder praktischem Verstand? Diese Fähigkeiten werden kaum abgefragt oder gewürdigt. Ein Schüler, der ein Genie im Umgang mit Maschinen ist, aber Schwierigkeiten mit Gedichtanalysen hat, wird als „schwach“ eingestuft. Ein anderer, der Menschen motivieren und führen kann, aber in Algebra strauchelt, gilt als „nicht begabt“.

Die Weisheit des Hirnforschers Gerald Hüther

Der renommierte Neurobiologe Gerald Hüther bringt es auf den Punkt:

„Ein guter Schulabschluss ist kein Indikator für Intelligenz, sondern von guter Anpassungsfähigkeit.“

Diese Aussage entlarvt unser Bildungssystem als das, was es tatsächlich ist: eine Anpassungsmaschine, die Konformität belohnt und Individualität bestraft.

Hüther weist auch darauf hin, dass es multiple Intelligenzen gibt, die sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben entwickeln. Manche Menschen sind Spätzünder, andere haben ihre Stärken in Bereichen, die das traditionelle Schulsystem nicht erfasst. Die Vorstellung, dass ein 15-jähriger Jugendlicher bereits sein gesamtes Potenzial unter Beweis gestellt haben muss, ist schlichtweg absurd.

Erfolgreiche Menschen mit Hauptschulabschluss

Die Geschichte ist voller Beispiele von Menschen, die trotz – oder gerade wegen – ihres nicht-akademischen Werdegangs Außergewöhnliches geleistet haben:

Bärbel Bas, die ehemalige Bundestagspräsidentin (2021-2025) und heutige Bundesministerin für Arbeit und Soziales, begann ihre Laufbahn mit einem Hauptschulabschluss und einer Ausbildung zur Industriekauffrau. Heute gehört sie zu den einflussreichsten Politikerinnen Deutschlands.

Helge Schneider, der geniale Musiker, Komiker und Multikünstler, verließ 1969 im Alter von 16 Jahren das Gymnasium ohne Abschluss. Dennoch wurde er zu einem der kreativsten und erfolgreichsten Künstler Deutschlands.

Joschka Fischer, ehemaliger Außenminister und Vizekanzler, verließ die Schule ohne Abschluss und wurde dennoch zu einer der prägendsten politischen Figuren der Bundesrepublik.

Wolfgang Grupp, Unternehmer und Chef von Trigema, hat mit seinem Hauptschulabschluss ein Millionenunternehmen aufgebaut und hunderte Arbeitsplätze geschaffen.

Beate Uhse, die Pionierin der Sexualaufklärung und erfolgreiche Unternehmerin, bewies, dass formale Bildung nicht gleichbedeutend mit Erfolg ist.

Reinhold Würth, einer der reichsten Deutschen, baute mit einem Hauptschulabschluss ein Weltkonzern auf und wurde zum Milliardär.

Die Illusion der Leistungsgerechtigkeit: Herkunft entscheidet über Bildungserfolg

Die traurige Wahrheit ist: In Deutschland entscheidet nicht die Leistung über den Bildungserfolg, sondern die Herkunft. Von 100 Akademikerkindern beginnen 79 ein Studium, von 100 Nichtakademikerkindern nur 27. Diese Zahlen entlarven unser Bildungssystem als das, was es tatsächlich ist: eine Maschinerie zur Reproduktion sozialer Ungleichheit.

Eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben bereits nur etwa halb so viele Nichtakademiker- wie Akademikerkinder. Und es wird noch drastischer: Bis zum Master steigt die Relation auf knapp 1:6, bis zum Doktortitel sogar auf 1:10. Diese Zahlen sind ein Armutszeugnis für eine Gesellschaft, die sich als meritokratisch bezeichnet.

Kinder von Bildungsaufsteigern erreichen zu einem geringeren Anteil die Hochschulreife als Kinder traditioneller Akademiker – das zeigt, dass selbst innerhalb der Akademikerschicht die Traditionen und das kulturelle Kapital entscheidend sind. Die Herkunft entscheidet in Deutschland immer noch maßgeblich über den Bildungserfolg, nicht die individuellen Fähigkeiten oder Anstrengungen der Kinder.

Besonders drastisch wird diese Ungerechtigkeit bei der Betrachtung multipler Benachteiligungen: Die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, liegt bei 21,5 %, wenn ein Kind mit einem alleinerziehenden Elternteil ohne Abitur aus dem untersten Einkommensviertel und mit Migrationshintergrund aufwächst. Hier zeigt sich, dass unser System nicht nur ungerecht, sondern auch diskriminierend ist.

Diese Fakten beweisen: Wenn wir Menschen mit Hauptschulabschluss stigmatisieren, stigmatisieren wir in Wahrheit ihre soziale Herkunft. Das ist nicht nur unfair, sondern ignoriert die strukturellen Probleme unseres Bildungssystems.

Die unterschätzte Praxis

Viele Menschen mit Hauptschulabschluss wählen praktische Berufe, die für unsere Gesellschaft unverzichtbar sind. Systemrelevant, nennt man das und wir wissen es spätestens seit der Corona-Pandemie. Ohne Handwerker, Pflegekräfte, Logistiker oder Verkäufer würde unser System zusammenbrechen. Diese Menschen verdienen Respekt und Anerkennung, nicht Herablassung. Sie verdienen Gerechtigkeit, bezahlbaren Wohnraum, eine sichere medizinische Versorgung und eine angemessene Altersversorgung.

Der Mythos der Linearität

Unsere Gesellschaft liebt lineare Lebensläufe: Abitur, Studium, Karriere. Doch das Leben ist selten linear. Viele Menschen entdecken ihre wahren Talente erst später, entwickeln sich durch Erfahrungen weiter oder finden auf Umwegen zu ihrem Erfolg. Das Schulsystem erfasst diese Vielfalt nicht.

Ich als Selbstständiger würde auf keinen Fall jemanden wegen seines Schulabschlusses einstellen. Der ist geschönt und sagt im Grunde nichts Wesentliches über den Menschen aus. Bist du freundlich, zuverlässig, stabil, hast du Lust, etwas zu lernen, passt du ins Team – das sind beispielsweise Fragen, die weder Hauptschulabschluss noch Abitur in irgendeiner Weise abbilden. Weshalb ist ein guter Schulabschluss denn so wichtig? Es macht einiges leichter, es zeigt, dass du dazugehörst und einen gewissen Wert hast. Und genau DAS ist das Problem.

Ein Plädoyer für gesellschaftlichen Wandel

Die Stigmatisierung von Menschen mit Hauptschulabschluss ist nicht nur unfair, sondern auch kontraproduktiv. Sie verschwendet menschliches Potenzial und perpetuiert ein System, das Vielfalt unterdrückt. Wie Gerald Hüther richtig erkannt hat, ist schulischer Erfolg oft nur ein Zeichen für Anpassungsfähigkeit, nicht für Intelligenz oder Wert als Mensch.

Lasst uns aufhören, Menschen in Schubladen zu stecken. Lasst uns ihre individuellen Talente erkennen und fördern. Denn am Ende zählt nicht das Zeugnis in der Schublade, sondern was wir aus unserem Leben machen – und dafür braucht es weder Abitur noch Studium, sondern Mut, Entschlossenheit und die Bereitschaft, seinen eigenen Weg zu gehen.

Der erste allgemeinbildende Schulabschluss ist genau das: ein Anfang, kein Ende. Es ist Zeit, dass wir das endlich verstehen.

Ein Schulabschluss sagt nichts über eine Intelligenzen aus
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Papalapapi

Ich heiße Mark und bin Vater einer wundervollen Tochter. Papalapapi Vaterblogger, Elternblogger und Männerblogger beschäftigt sich mit Themen rund ums Kinderhaben und Mannsein aus einer subjektiven männlichen und vor allem väterlichen Sicht.

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