Bildung, Kindergarten und die Macht der Gewohnheit

Kindergarten

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, so sagt die alte Volksweiheit. Ein Tier allerdings, wie gestern die ARTE-Dokumentation „Endstation Fortschritt?“ bewies, kann nicht hinterfragen. Bei uns Menschen ist es eher das Problem, nicht hinterfragen zu wollen, wie ich immer wieder feststellen muss. Daher nehmen wir Dinge als Selbstverständlich hin, die vielleicht gar nicht so selbstverständlich sind. Man ist faul und zu bequem, bestimmte Dinge in Frage zu stellen, vielleicht glaubt man einfach, die Dinge eh nicht ändern oder beeinflussen zu können. Also gewöhnt man sich am Besten daran und fertig. Wie bei der Sache mit dem Kindergarten.

Aktuell machen wir große Fortschritte in dieser Hinsicht, aber sie kommen seltsamerweise recht spät. Und sind – vor allem im konservativen Lager – teils umstritten. Wir denken nur an das völlig absurde Betreuungsgeld, das uns weiter an Glaubwürdigkeit und Verstand von Teilen der politischen Klasse (ver)zweifeln lässt. Fakt ist, dass noch mindestens 160 000 Kita-Plätze in Deutschland fehlen. Ab 1. August 2013 gibt es einen Rechtsanspruch“ auf einen Platz. Immerhin. Weshalb jetzt erst? Wieso so spät? War man die letzten 20 Jahre so hinterwäldlerisch oder so konservativ, so ideologisch? Bildung fängt im Kindergarten an. Hier ist das Geld besser aufgehoben, als irgendwo sonst. Aber Kinder können nicht wählen und die Eltern sorgen sich eher um (nicht vorkommende) Atomverstrahlung und giftfreie Strampelanzüge (Mütter sind durch ihre genetische fürsorgliche Ängstlichkeit besonders von der Werbung manipulibar), als um ausreichende Kita-Plätze und die Basis einen guten Bildungssystems.

Erzieherinnen sind dennoch unterbezahlt. Ein Skandal.

Schröder präsentierte am Mittwoch zusammen mit den Kommunalen Spitzenverbänden ein Zehn-Punkte-Programm, um den Ausbau der Kinderbetreuung zu beschleunigen. Nach Schätzungen fehlen noch immer 130 000 bis 160 000 Plätze, zudem rund 14 000 Erzieher und 16 000 Tagesmütter. Schröders Programm sieht zinsverbilligte Kredite für die Kommunen vor, Lohnkostenzuschüsse, wenn Tagesmütter regulär von der Gemeinde eingestellt werden, die Förderung von Betriebskindergärten und Hilfen bei Umschulung und Weiterbildung, um qualifiziertes Personal zu gewinnen.
Quelle: Analyse: Tauziehen um den Kita-Rechtsanspruch.


Deutsche Welle: Mongolei – Mobile Kindergärten | GLOBAL 3000

Das ist die eine Seite. Die andere sind die Fakten der Kita-Betreuung, nämlich dass das Kind nahezu völlig unabhängig von den Eltern lernt, lebt und spielt – was später in der Schule noch augebaut wird. Das bedeutet doch, dass wir Eltern nicht nur immer weniger Einfluss haben, was mit unseren Kleinen hier und dort geschieht, sondern dass wir auch bestimmte Teile der Entwicklung unserer Kinder gar nicht recht erleben und begleiten können.

Ich bedaure das sehr.

Die Kinder im Kindergarten nicht begleiten können

Gestern beispielsweise, erzählte die Kindergärtnerin, unsere Kleine, die jetzt drei ist und gerade auf den Wechsel von der Krippe in den Elementarbereich vorbereitet wird, hätte im Morgenkreis (bei den „großen Kindern“) sehr gelacht. Warum, das solle sie uns selber erzählen. Mochte sie aber nicht. Später kleckerte nach intensivem Nachfragen ein bisschen was zu der Geschichte aus ihr heraus. Nachprüfen – verifizieren – können wir Eltern das dann natürlich nicht (so einfach). Und so merkt man wieder, dass manche Erfahrung dieses kleinen Wesens uns einfach verborgen bleibt. Dabei ist es für uns doch ganz wundervoll, unmittelbar zu erfahren, was unsere Tochter so amüsiert hat. Abgesehen davon, dass sie selbstverständlich ihre kleinen Geheimnisse haben darf.

In unseren (westlichen) Gesellschaften wird ein wesentlicher Teil der Kinderbetreuung also in professionelle Hände gegeben und außerhalb der Familie vollzogen. Für Kinder ist zweifellos sehr wichtig mit anderen Kindern zu spielen, neue Beziehungen einzugehen, sich neuen Herausforderungen zu stellen, wichtige Erfahrung außerhalb des beschützenden Familie zu machen und dabei viel zu lernen. Aber ist das nicht schade, wenn wir an großen Teilen des Tages unserer Kinder und ihren Erfahrungen nicht teilhaben können? Muss das so sein? Gibt es Alternativen? Sind die überhaupt denkbar?

Da die Evolution und damit auch die Evolution des Menschen ein wichtiges Thema für mich ist, ist mir auch sehr bewusst, dass diese Art der Kinderbetreuung in der Menschheitsgeschichte nicht sehr alt ist. Kinder waren stets ein Teil des Ganzen, nahmen in den 100.000en von Jahren unserer Evolution am Geschehen der Gemeinschaft ganz natürlich teil. Sie wurden also nicht separiert, nicht von spezialisierten Fachkräften angeleitet sich gefälligst als wichtige Ressource einer Gemeinschaft vorzukommen und zu lernen sich entsprechend zu verhalten. Das war alles ganz natürlich und kam ganz sicher von ganz allein – vom Zuschauen und Nachahmen.

Und jetzt? Es ist eine Aufsplitterung der Ganzen auch an der Funktion der Kinderbetreuung in den Industriegesellschaften erkennbar. Wie überall sonst. Das große Ganze scheint es nicht mehr zu geben. Nur noch das kleine Spezielle. Anders funktioniert es hier offenbar nicht.

Wir haben uns an diese Welt gewöhnt. Wir können uns kaum noch vorstellen, dass es einmal anders war. Nach meiner Auffassung wird es dereinst wieder so sein, da ich der festen Überzeugung bin, dass wir uns auf einem offenbar notwendigen, aber eben einen Irr-Weg befinden. Aus dem Paradies vertrieben. Aber das ist ein anderes Thema.

Mir bleibt der leichte Schmerz, nicht an den verschiedenen, mehr oder weniger wichtigen Erfahrungen meiner kleinen Tochter teilnehmen zu können. Es fühlt sich an, wie eine milde Krankheit, gegen die ich nichts machen kann.

Allein die Gedanken sind frei!

Foto: Bestimmte Rechte vorbehalten von Geoffery Kehrig

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