Der Mythos des verwöhnten Kindes: Erziehungslügen unter die Lupe genommen

Buchcover: Der Mythos des verwöhnten Kindes: Erziehungslügen unter die Lupe genommen

Der Mythos des verwöhnten Kindes: Kürzlich war ich mit meiner Tochter (7) und eine ihrer Freundinnen bei meiner Mutter, ihrer Oma, zu Besuch. Oma hat ein Haus, einen großen Garten und noch einen Sohn – meinen Bruder. Die beiden Mädchen konnten es nach dem Essen kaum erwarten, in den Garten zu kommen und dort ein wenig rumzutoben. Wie Kinder eben so sind. Wir Erwachsenen unterhielten uns noch ein wenig, doch nach ein paar Minuten wurde ich unruhig, ich wollte den Mädchen hinterher, um zu sehen, was sie im Garten so trieben. „Du bist echt ein Helikoptervater!“, meinte mein Bruder und stand hinter seiner Meinung. Ich war etwas verunsichert und kümmerte mich um die Kinder. Die erwarteten uns schon und waren begierig darauf, mit uns Fußball zu spielen. Aber wie verhält es sich nun mit diesen Helikopter-Eltern, die ihre Kinder überbehüten und viel zu sehr verwöhnen. Der amerikanische Autor und Dozent Alfie Kohn klärt und genau darüber in seinen wunderbaren und durchweg gelungenen Buch mit dem Titel Der Mythos des verwöhnten Kindes: Erziehungslügen unter die Lupe genommen auf.

„Kinder sind keine Tyrannen, und sie werden auch nicht zu Helikopterkindern oder kleinen Prinzessinnen, nur weil wir ihnen Liebe und Verständnis entgegenbringen“, sagt Alfie Kohn. Aber wie viel ist zu viel. Das wird uns ja vorgeworfen, dass wir zu viel von allem unseren Kindern angedeihen lassen: Zu viel Liebe, zu viel Verständnis, zu viel Besorgnis, zu viel Aufmerksamkeit, zu viel Einfühlung, zu viel … Kontrolle. Dabei muss eins allerdings klar sein: Wer selber keine Kinder hat, kann sich hier nur schwer ein Urteil erlauben. Er kann vielleicht von außen mit einer gewissen Distanz schärfere Beobachtungen anstellen, aber es befähigt ihn nicht unbedingt, diese Beobachtungen angemessen einzusortieren und zu bewerten. Eltern zu kritisieren ist leicht. Und vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Und jedes Elternteil hat seine Schwächen, manchmal Schuldgefühle, Verunsicherungen und Ambivalenzen bei der Kindeserziehung. In diese Bresche schlagen sie die harschen Urteile über uns Eltern. Zum Glück gibt es Menschen, die sich intensiv, belesen, glaubwürdig, originell und ernsthaft mit diesen Thematiken auseinandersetzen. Alfie Kohn ist so jemand.

„Kohn zeigt schlüssig auf, dass der Ruf nach mehr Disziplinierung vor allem ein Ziel hat: Kinder hervorzubringen, die sich via Unterordnung, Gehorsam und Leistung an die gesellschaftlichen Verhältnisse anpassen – anstatt sie zu einem ›reflektierten Rebellentum‹ zu bringen.“ Ulla Hanselmann, Stuttgarter Zeitung, 12.09.2015

Wer ist Alfie Kohn?

Alfie Kohn gilt als der Jesper Juul der USA. Seine Bücher erschienen in 17 Sprachen auf vier Kontinenten. Er arbeitet als Autor und Dozent. Alfie wurde u.a. bekannt mit seiner Kritik an Hausaufgaben und der Fixierung der Bildung auf Noten, Tests und Wettbewerb. Seine Gedanken über Kooperation und Autonomie haben das Denken vieler Erzieher, Eltern und Manager auf der ganzen Welt geprägt. In Deutschland erschien zuletzt 2010 sein Buch Liebe und Eigenständigkeit: Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung.

Es ist ein altes Thema, das mit dem verwöhnten Kind. Darauf geht Alfie Kohn in seinem Buch auch ausführlich ein. Schon bei den Nazis mit ihrer „schwarzen Pädagogik“ hieß es „Affenliebe“, schon Babys konnte man in dieser Ideologie „verzärteln“, durch „allzu viel Mutterliebe“ würde ein Kind „verweichlichen“. Wir wissen wohin diese Gefühllosigkeit geführt hat. Kohn bleibt sachlich und bringt Belege, dass es hierfür keine Belege gibt. Kohn bezieht sich nicht auf die Nazi-Ära, diese Vergleiche stammen von mir. Aber er ordnet die modernen Mythen der Kindererziehung klar zu und nimmt sie Stück für Stück auseinander.

„Kritisch, aufklärend und als Verfechter einer an den individuellen Bedürfnissen von Kindern orientierten Erziehung durchleuchtet Kohn verbreitete Ansichten zur (vermeintlich) richtigen Erziehung. Sehr empfehlenswert für alle Eltern und Erziehenden, die bereit sind, ihre eigenen Überzeugungen zu hinterfragen oder noch ihren Weg suchen.“ Medienprofile Borromäusverein, 3/2015

Allein in seiner Einleitung zu Der Mythos des verwöhnten Kindes bringt der Autor die Sache brillant auf den Punkt. Ich will das alles gar nicht wiederholen, es ist aber toll zu lesen. Der Text ist sehr talentiert und unterhaltsam geschrieben und es kommt nicht von ungefähr, dass es heißt, Kohn sei der Juul Amerikas. Den einzigen Nachteil, den ich in diesem Buch sehe, das als Grundlage jeder Diskussion zum Thema dienen kann, sind die Fremdwörter, die Kohn anführt. Vermutlich möchte er damit auch das Fachpersonal erreichen und ich hätte mir gewünscht, dass im Buch die Begriffe kurz erklärt werden oder gleich ganz mit dem deutschen Begriff ersetzt werden. Beispiele sind „Permissivität“ (Duldung, Toleranz, eine akzeptierende Einstellung) oder „deskriptive Aussage“ (beschreibende Aussage) oder gar der Hinweis auf das „protestantische Arbeitsethos“, den manche gar nicht kennen, obwohl sie es leben. Aber es sind relativ wenige diese für manchen verwirrenden Begriff. Der überwiegende Teil des Buchs liest sich flott, nachvollziehbar und bringt die Sache auf den Punkt.

Nein, ich bin kein Helikoptervater. Ich gehöre zwar nicht zur Gruppe der sozialkonservativen strengen Vatermodells – warum sollte ich zu meiner süßen Tochter streng sein? Das macht einfach keinen Sinn, es wäre Selbstzweck und es ging nicht um sie, sondern um alles andere, um mich, die Gesellschaft, die Schule, was weiß ich! – sondern bin eher ein Vertreter einer „linksliberale Positionen“ eines fürsorglichen Elternmodells. Aber da ich das als ganz natürlich empfinde, kann ich mich mit diesen stark umrissenen Beschreibungen nicht wirklich identifizieren. Und darum geht es auch nicht. Denn wie Alfie Kohn belegt, klingen „sehr viele Menschen, die politisch eher linksliberal denken, … wie Ultrakonservative, wenn es um Kinder und Erziehung geht.“ Hier tun sich Abgründe auf.

„Kindererziehung lässt sich als eine verborgene Front im Kulturkampf bezeichnen, bei dem nur niemand auf der anderen Seite kämpft. Wenn Sie je Zeitungsartikel, Blogs und Bücher zur Kindererziehung gelesen haben, dann kennen Sie mehr oder weniger alle. Greifen Sie einfach irgendeinen Text heraus, und als Erstes wird Ihnen eine Auswahl verschiedener Klagen und Beschwerden begegnen, als seien sie untereinander austauschbar. Die Eltern werden dafür kritisiert, dass sie überfürsorglich und zu lax seien (ohne einen Hinweis darauf, dass es sich hier um zwei vollkommen verschiedene Paar Schuhe handelt). In einem Satz wird behauptet, Kinder hätten zu viel Spielzeug; im nächsten werden sie angeklagt, sie seien respektlos oder unmotiviert oder ichbezogen. Alles, was dem jeweiligen Autor gegen den Strich geht, wird in den Bottich geworfen. Kinder sind zu viel Werbung ausgesetzt! Sie gehen zu vielen außerschulischen Betätigungen nach! Sie werden von zu viel Technologie abgelenkt! Sie sind wahlweise zu materialistisch, zu individualistisch oder zu narzisstisch – wahrscheinlich weil ihre Eltern zu fordernd, zu nachgiebig oder zu ‚progressiv‘ waren.“

Das ist genau die Erfahrung, die ich mache. Ich begegne sehr wenig gelassenen Profis und auch leider wenig gelassenen Eltern. Eher Eltern, die einen klaren Plan zu verfolgen scheinen und Profis, die einen dicken Kopf haben. Was das alles mit den Kindern zu tun hat, erschließt sich mir nur selten. Jesper Juul ist ein Vertreter der „gelassenen Profis“ und auch unsere Hortleitung. Dann hört es aber schon langsam auf. In Der Mythos des verwöhnten Kindes beschreibt Alfie Kohn wie es dazu kommt und welche Zusammenhänge, welche Entwicklungen es gibt. Und er fordert immer wieder Belege, für diese oder jene angeblich pädagogische Behauptung – die es aber meistens nirgends gibt. Er selber führt Untersuchungen an, kritisch und vorsichtig, aber in den Ergebnissen eindeutig.

Wir leben nicht mehr in Zeiten, in denen die Großmutter oder der Großvater seine Kinder im Umgang mit deren Kindern zu Gelassenheit aufrief. Heute scheint es immer ums Ganze zu gehen, dem Lebenserfolg, dem Lebensglück, um alles oder nichts. Was die kleinen dabei wollen, ist erst einmal nicht so wichtig. Kohn räumt auf mit dem schwammigen Begriff der Helikoptereltern und stellt etwas in den Fokus, was in unseren Gesellschaften viel zu kurz kommt, vielleicht weil es zu wenig Freiräume gibt: Das kleine Rebellentum. Wie das gemeint ist, lest ihr bitte lieber selber. Das Buch lohnt sich, ich habe es sehr gerne gelesen und blättere immer mal wieder darin, um Bestärkung zu finden, die gesunde Mitte, den gesunden Menschenverstand. Denn die hier gemeinte „sanfte Rebellion“ ist für mich genau das, was uns gesund erhält und uns zu Menschen macht. Die Macht scheinen jedoch die andern haben, aber da setzte ich große Hoffnung in unsere jungen Menschen.

Auch mit diesem Mythos räumt Alfie Kohn in Der Mythos des verwöhnten Kindes: auf: Dass nämlich Generationen von Narzissten heranwachsen und herangewachsen sind weil wir unsere Kinder zu sehr verwöhnt haben. Wo sind die Belege dafür? Es gibt sie nicht. Ich kenne viele engagierte, wundervolle junge Menschen, die liebenswert, fürsorglich, klug und auf keinen Fall schlechter als die Alten sind. Um das herauszufinden, brauche ich mich nur für junge Menschen interessieren. Und hier schließt sich der Kreis. Lest dieses Buch!

Inhaltsverzeichnis „Der Mythos des verwöhnten Kindes“

  • Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe
  • Einleitung
  • KAPITEL 1
    Von nachgiebigen Eltern, verwöhnten Kindern und anderen altbekannten Buhmännern
  • KAPITEL 2
    Der Dauerbrenner: Kinder sollen tun, was ihnen gesagt wird
  • KAPITEL 3
    Mythos Helikopter-Erziehung und Überfürsorge
  • KAPITEL 4
    Wofür soll Scheitern gut sein?

     

  • KAPITEL 5
    „Nur unter dieser Bedingung …“. Vom Unsinn von Strafen, Noten und Wettbewerb

     

  • KAPITEL 6
    Der Angriff auf das Selbstwertgefühl
  • KAPITEL 7
    Warum Selbstdisziplin überschätzt wird
  • KAPITEL 8
    Erziehung zur sanften Rebellion
  • Anmerkungen
  • Literatur

Weitere Rezensionen auf:
1. Das Kita-Handbuch
2. www.gewuenschtestes-wunschkind.de
3. socialnet.de – Netz für Sozialwirtschaft

Der Mythos des verwöhnten Kindes: Erziehungslügen unter die Lupe genommen

von Alfie Kohn
Beltz Verlag, 304 Seiten, Hardcover
22,95 Euro (D/A)
ISBN-10 3407857578
ISBN-13 978-3407857576
Originaltitel „The Myth of the Spoiled Child. Challenging the Conventional Wisdom about Children and Parenting“
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